Kategorie: Historisch (Seite 1 von 2)

Ein Tag im Jahrzehnt

2. August 1932. Dienstag. Ich warte darauf, dass etwas passiert. Heute ist mein erster Tag als Nachrichtenreporter des „Schwaaber Blattes“, der größten Zeitung im Umkreis von 100 Kilometern. Es juckt mir in den Fingern. Die Sonne scheint, es weht kein Lüftchen. Ich spaziere schon seit zwei Stunden am Ufer entlang, in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen. Vielleicht mal wieder eine Wasserleiche, die hatten wir lange nicht mehr. Badeunfälle ereignen sich sowieso kaum noch, das war vor einigen Jahren völlig anders. Bin ich etwa zu spät dran? Werden die 1930er Jahre das langweiligste Jahrzehnt seit langem? Ich hätte vermutlich doch Polizist werden sollen.

Das Automobil

Ich liebte dieses Automobil über alles. Keiner meiner Freunde oder Nachbarn besaß ein eigenes motorisiertes Fahrzeug und ich genoss ihre bewundernden Blicke auf mein kraftvolles Schätzchen jedes Mal. Nur Heidi, meine Verlobte, zeigte sich immer betont gleichgültig, wenn ich sie abholte, dabei wurde sie von all ihren Freundinnen aufs Schärfste beneidet. Deren Verehrer waren durchweg unmotorisiert. Mehr noch als Heidis Mangel an Bewunderung störten mich freilich ihre seltsamen Aussagen. Sie fand unsere langen Spazierfahrten langweilig und meinte erst kürzlich zu mir, dass in Zukunft alle Automobile ein Radio haben würden. Das war eine Schnapsidee. Frauen verstehen einfach nichts von Autos.

Freaks

Es war alles bereitet für einen großen Abend. Einen großen Abend in einem weiteren Provinzkaff in Illinois, dessen Name er sich nicht merken konnte. Seine Zaubershow war das Highlight des reisenden Jahrmarktes, wenngleich die Zeitungen meist nur über die Freakshow berichteten, über die bärtige Frau, die Siamesischen Zwillinge und natürlich Anton, den „Stärksten Mann der Welt“, dessen wuchtiges Brüllen gerade wieder alle Buden auf dem Platz erzittern ließ. Sämtliche Gespräche verstummten augenblicklich. Der Zauberer drehte sofort um und machte sich auf den Weg zu seinem Wohnwagen, um den Verbandskasten zu holen. Der stärkte Mann der Welt war ein riesiger Tollpatsch.

Bei der Apfelschussszene bitte nicht lachen

Der Sommer 1927 versprach ein besonderer in der Geschichte unserer Stadt zu werden. Das Freilichttheater, das im Jahr zuvor feierlich eröffnet worden war, erfreute sich immer größerer Beliebtheit. Viele neue Stücke waren für die kommenden Monate in Planung. Nur Tell war nicht zufrieden. Seinen richtigen Namen hatten die meisten Bürger längst vergessen, er wurde nur noch nach der Figur benannt, die er auf der Bühne verkörperte: Wilhelm Tell. Auf einer Sitzung hatte er seinem Ärger zum wiederholten Male Luft gemacht. Nun standen die Organisatoren vor einem großen Dilemma. Sollten sie wirklich ein Schild mit“ Bei der Apfelschussszene bitte nicht lachen“ aufstellen?

Der Sommer der Unabhängigkeit

Ihr ganzes Leben lang  ist sie perfekt gewesen. Erst die perfekte Tochter, die ihren Eltern gehorchte, dann die perfekte Hausfrau, die ihrem Mann jeden Wunsch von den Lippen ablas. Diese Person gab es jetzt nicht mehr. Der Sommer 1934 war ihr Sommer der Unabhängigkeit. Sie tat nur noch, was sie wollte, wann sie es wollte. So lange sie es noch konnte. Bald würde alles in sich zusammenstürzen. Sie besaß kein eigenes Einkommen, sie wusste nicht, wohin sich ihr Mann mit seiner blutjungen Geliebten abgesetzt hatte und jeder würde ihr die Schuld geben. Die Zeit bis dahin wollte sie einfach nur genießen.

Der letzte Sommer

Das Land begann sich zu verändern. Viele ihrer Nachbarn und Verwandten wollten dies nicht wahrhaben, aber die drei Freundinnen waren lange genug auf der Welt, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Sie hatten schon einen großen Krieg erlebt. Damals, als sie viel jünger waren. „Lasst uns noch einmal ans Meer fahren“ schlug Magda den beiden anderen Frauen, die sie gefühlt schon ein ganzes Leben kannte, vor. Sie war die Älteste, aber nie zuvor hatte sie eine Unternehmung angestoßen. Bettina und Klara sahen sich einen Augenblick lang an. „Das ist eine sehr gute Idee“ erwiderte Bettina schließlich. Noch einmal verreisen.

Noch sehr lebendig

Vor ein paar Jahren sind wir aufgestanden. Damit begann der ganze Schlamassel. Jetzt laufen wir auf zwei Beinen, machen ständig irgendwas mit unseren Händen und müssen Viecher töten, die dreimal so groß und viermal so stark sind wie wir.  Zum Glück beherrschen wir die Wahrscheinlichkeitsrechnung noch nicht. Oder eine Sprache, nebenbei bemerkt. In der Zukunft wird es heißen, die Dinosaurier wären längst ausgestorben gewesen als die ersten Menschen die Erde bevölkerten. Da lachen ja die Tyrannosaurier! Ein paar der schuppigen Stinker sind vielleicht schon weg, aber wir haben noch jede Menge davon. Einige fliegen sogar. Zeit, das Zielen zu erfinden.

Aufmarsch

Was ging damals wohl in ihren Köpfen vor? Hatten sie Angst? Waren sie euphorisch? Glaubten sie all die hasserfüllten, egomanischen Lügen, die durch das ganze Land schwappten? Viele der Soldaten, die 1939 mit schwerem Gepäck über staubige Straßen marschierten, kehrten nie wieder heim. Manche schafften es erst viele Jahre später zurück in ein Land, das seinen unauslöschlichen Platz in der Geschichte eingenommen hatte und um die Zukunft bangen musste. Die Fotos sind geblieben. Sie zeigen Uniformen und Waffen, aber nicht die Gedanken und Gefühle der Soldaten. Die meisten ihrer Namen sind vergessen. Die, die unsere Großeltern werden durften, hatten noch Glück.

Der Prinz und sein Ritter

Mutig kämpfte der kleine Prinz im Schlossgarten gegen den großen, bösen Baum. Immer wieder schlug er jauchzend mit seinem Holzschwert an den Stamm. Als er mich bemerkte, streckte er seine Arme aus, seine kleinen Finger zeigten auf meinen schweren Helm. Ich nahm ihn ab und legte ihn vor dem kleinen Prinzen ab, der ihn ehrfurchtsvoll berührte. Aus den Augenwinkeln sah ich die Königin. Sie beachtete mich nicht, aber ich wusste, wie unendlich dankbar sie mir war, dass ich ihr damals dieses Findelkind gebracht hatte. Der König war lange genug auf Reisen gewesen, um zu glauben, dass sie schwanger gewesen ist.

Der König und sein Schreiber

In seinem Reich herrschte Frieden und Wohlstand. Den Menschen ging es gut, sie mussten keine Kriege, keine Hungersnot und keine Vertreibung befürchten. Der König könnte glücklich sein, wäre ihm nicht geradezu schmerzhaft langweilig. Er ließ seinen Schreiber zu sich kommen, einen Mann von vollkommener Humorlosigkeit, der über alle Vorgänge im Palast im Bilde war. „Was gibt es zu berichten?“ fragte der König ihn leicht hoffnungsvoll. Der Schreiber blickte in das Buch, das er immer mit sich führte, ehe er antwortete: „Es sind zwei Gläser zu Bruch gegangen, euer Majestät. Ich habe alles notiert.“ Der König wünschte, er könnte jemanden köpfen.

Die Rache des Hofnarren

Gekrönte Häupter aus aller Welt lassen sich von ihm verspotten. Mit tosendem Applaus. Niemand versteht es so meisterhaft wie er, die Grenzen der Narrenfreiheit auszuloten. Es ist seine Gabe, sich ungeschoren über Menschen lustig zu machen, die seinen Kopf jederzeit auf einen Pfahl spießen könnten. Umso mehr schmerzt ihn die Demütigung, die er durch diese Prinzessin erfahren hat. Nicht wie ein Narr, sondern wie ein Tölpel hatte sie ihn aussehen lassen. Ihn, den großen Marko! Das verlangt nach Rache. Er wird sie dazu bringen, freiwillig einen schleimigen Frosch zu küssen. Noch in hunderten Jahren sollen Eltern ihren Kindern davon erzählen!

Das Herz des Königs

Tausende Meilen entfernt wurde gerade der neue König gekrönt. Sir Edwin war sich nicht sicher, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Omen bedeutete, als er die Stufen des kleinen Bergklosters hinaufstieg. Mit der hölzernen Schatulle unter dem linken Arm klopfte er an die schwere Tür. In Gedanken malte er sich das kommende Gespräch mit dem Abt aus. An seinen vorherigen Stationen war er freundlich empfangen, aber entschieden abgewiesen worden. Hier, am äußersten Rand des Reiches, zeigten sie sich vielleicht offener und gewährten dem Herz ihres alten Königs die letzte Ruhestätte. Sir Edwin presste die hölzerne Schatulle fest an sich.

Die weite Welt

„Es tut mir Leid, Vater, aber ich möchte nicht mein ganzes Leben damit verbringen, Heu auszufahren. Ich möchte etwas von der Welt sehen!“ Meine Worte klangen in meinen Ohren nach. Was bin ich doch für ein Schaf gewesen! Jetzt saß ich in dieser Nussschale von einem Schiff, das von den Wellen wild hin und her geschleudert wurde. Ich vermisste die Bäume, die Blumen, den Gesang der Vögel, aber ganz besonders vermisste ich den festen Boden. Eine weitere Welle traf das Schiff und warf mich gegen die Wand. Als ich mich aufrappelte, wartete schon die nächste Welle. Eine Welle der Übelkeit.

Gewinner und Verlierer

Georg schlenderte mit seiner Familie die Straßen entlang. Für einen so schönen Sommertag war es ungewöhnlich leer. Die Lust der Menschen, das Wetter zu genießen, miteinander zu plaudern und Geld auszugeben, hielt sich mehr und mehr in Grenzen. Die Euphorie, die noch 1914 im ganzen Land geherrscht hatte, war längst verflogen. Georg spürte noch immer Zufriedenheit. Seine Rüstungsfirma war mit Aufträgen ausgelastet und er hatte an den richtigen Stellen glaubhaft versichern können, dass er seinen Sohn Schorsch an seiner Seite brauchte. Sein jüngster Sohn war noch zu klein für den Krieg. Georg war ein Gewinner. Die Verlierer starben zum Glück woanders.

Quo vadis?

Seine Hand umklammerte den Weinbecher so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er hatte um Unterhaltung gebeten und was hatten sie ihm geschickt? Einen Leierspieler! Was bitte war an einer Leier unterhaltsam? Er war der Kaiser von Rom, verdammt nochmal! Verdrießlich ließ er seinen Blick über seine Berater und Bediensteten fahren. Sie waren nur langweilige Speichellecker, nichts weiter. Er stellte sich vor, wie er einen nach dem anderen von seinen Soldaten ermorden ließ. Das heiterte ihn auf. Er konnte das Blut förmlich riechen. Dann spürte er den heißen Schmerz des Dolches in seiner Brust. Der Leierspieler hatte ein Überraschungsprogramm mitgebracht.

Lieber Dichter

Meine Hände zitterten immer ein wenig, wenn ich ihm schrieb. Vor einigen Tagen hatte mich sein neuestes Gedicht erreicht. Es war nicht so berührend wie das letzte und einige Worte wirkten irritierend auf mich. Lag es an mir? Er war schließlich ein großer Poet und ich nur der kleine Angestellte eines Verlages, der das Glück hatte, von diesem berühmten Mann als ein Freund betrachtet zu werden. Und doch … Möglicherweise bedrückte ihn etwas. Ich musste meine Worte an ihn mit Bedacht wählen. Ich begann meine Zeilen wie gewohnt mit „Lieber Dichter“. Auch in Gedanken sprach ich seinen Namen selten aus: Goethe.

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