Schlagwort: Familie

Zum Muttertag

Mütter sind engagiert, mutig, leidenschaftlich, übermüdet, traurig, glücklich, besorgt, fröhlich, beherzt, ängstlich, tapfer, geschickt, zuverlässig, genervt, flott. Sie können kochen, nähen, stricken, backen, abwaschen, einkaufen, singen, erzählen, schimpfen, telefonieren, vorlesen, basteln, wischen, streicheln, trösten, malen. Gleichzeitig. Sie verzichten auf Schlaf, Freizeit, Hobbys, Freundschaften, Wellness, Karriere, Glastische, Urlaub, Luxus, Geld.  Sie nehmen es auf mit überfluteten Badezimmern, minütlich wechselnden Essenswünschen, öffentlichen Wutanfällen, Schokoflecken auf T-Shirts, streitenden Geschwistern, verschwundenen Spielzeugen, ungemachten Betten, tausenden Warum-Fragen. Täglich. Sie haben Ahnung, Witz, Glück Pech, Stärken, Schwächen, Meinungen, Recht. Sie bekommen kein Geld, selten Dankbarkeit, wenig Aufmerksamkeit, kaum Verständnis. Mütter bleiben die beste Erfindung der Welt.

 

Mal was anderes

Mein „großer“ Bruder sah mich an, als wäre ich komplett verrückt geworden. Er war nicht wirklich größer als ich, wir waren alle keinen Meter groß, aber er lebte schon länger als ich. „Was ist das?“ fragte er mich und zeigte auf den Gegenstand in meiner Hand „und wo ist deine Spitzhacke?“ Seine Stimme klang schrill. „Ich habe getauscht“ erklärte ich zufrieden. „Ge…“ mein Bruder war fassungslos „du hast deine Spitzhacke gegen dieses Ding getauscht?“ Er sah jetzt aus, als würde er mich am liebsten an den nächsten Baum fesseln. Ich grinste: „Wer sagt denn, dass Zwerge keinen Dreizack haben dürfen?“

Der Himmel weint

Wenn es regnet, bewegt sich die Welt plötzlich schneller. Die Menschen gehen nicht, sie rennen. Zu ihren Autos, ins Haus oder einfach unter das nächste Dach. Hannah widersteht dem Drang, ins Trockene zu flüchten. Während alles um sie herum in Bewegung ist, setzt sie kaum einen Fuß vor den anderen. Die Regentropfen prasseln auf ihren Schulranzen und bedecken jeden Zentimeter ihrer Jacke. Sie denkt an das Foto. Ihre Mutter hat es ausgesucht, es soll vergrößert werden, um aufgestellt zu werden. Neben den Sarg. Mehr war von ihrer Oma nicht geblieben. Ein Foto. Seit ihre Oma gestorben ist, regnet es unaufhörlich.

Mein schärfster Kritiker

Ich war im Tunnel. Meine Finger flogen ungebremst über die Tastatur, das rhythmische Klicken erfüllte mein Arbeitszimmer. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, ich musste sie nicht sehen, ich hatte die ganze Geschichte im Kopf. Wie aus der Ferne nahm ich eine Stimme wahr. Langsam drang sie zu mir durch: „Kommen Roboter vor?“ Meine Finger erlahmten. „Was?“ fragte ich meinen Sohn verwirrt. „Kommen in deinem neuen Buch Roboter vor?“ wiederholte er. „Nein. Es geht um einen Arzt, der …“ Ich blickte in die Augen des Vierjährigen. „Es geht um einen Alienkönig, der Planeten in die Luft jagt!“ Mein schärfster Kritiker war überzeugt.

Schwere Entscheidung

Es war früher Abend, durch das geöffnete Fenster waberte der Geruch von gegrilltem Fleisch herein und ich saß hier mit der Wahl zwischen Pest und Cholera. Ich wollte beides nicht. Da aber nun einmal eine Entscheidung fallen musste, holte ich mir den Würfel aus der Monopoly-Packung und erklärte: „Wenn ich eins, zwei oder drei werfe, nehme ich den Regenbogen, bei vier, fünf oder sechs nehme ich die Sternschnuppe. Alles klar?“ Meine kleine Schwester nickte lächelnd. Selbstverständlich konnte sie noch gar nicht zählen, aber solange ich am Ende eines der beiden Bilder ausmalte, war ihr alles recht. Sie konnte nur gewinnen.

Monster

Aus meinen Tränen der Angst waren längst Tränen der Wut geworden. Niemand wollte mir glauben, dass in meinem Schrank ein Monster lebte. Es sah aus wie eine riesige Schlange mit einem Kopf, aus dem lauter kleine Schlangen wuchsen. Ich hasste Schlangen. Wie konnte ich meine Familie nur überzeugen, dass ich nicht – wie hatte mein Papa es nochmal genannt – „fantasinierte“? Dann dachte ich daran, was mein großer Bruder mir erzählt hatte. Er sagte, dass ein Schlangenmonster niemals so gemein sein könnte wie der Schwarze Mann. Ich kannte den Schwarzen Mann nicht, aber vielleicht konnte er das Schlangenmonster ja für mich verjagen?

Die Cousine

Sie konnte einfach alles besser als ich. Sie war sportlicher, klüger, witziger und natürlich hübscher. Vermutlich war eifersüchtig auf meine Cousine zu sein das einzige, was ich besser konnte als sie. Sicher war ich mir da aber auch nicht.  Um ihre eigene Perfektion beneidete sie sich wahrscheinlich selbst manchmal. Es gab für mich keine Möglichkeit, sie zu besiegen. Wenn ich eine gute Note schrieb, gewann sie irgendeinen Preis. Wenn mir ein netter Witz gelang, riss sie das ganze Abendprogramm an sich. Sollte ich jemals ein Land erobern, würde sie wahrscheinlich den Mars einnehmen. Ich wünschte, ich könnte sie wenigstens hassen.

Gewinner und Verlierer

Georg schlenderte mit seiner Familie die Straßen entlang. Für einen so schönen Sommertag war es ungewöhnlich leer. Die Lust der Menschen, das Wetter zu genießen, miteinander zu plaudern und Geld auszugeben, hielt sich mehr und mehr in Grenzen. Die Euphorie, die noch 1914 im ganzen Land geherrscht hatte, war längst verflogen. Georg spürte noch immer Zufriedenheit. Seine Rüstungsfirma war mit Aufträgen ausgelastet und er hatte an den richtigen Stellen glaubhaft versichern können, dass er seinen Sohn Schorsch an seiner Seite brauchte. Sein jüngster Sohn war noch zu klein für den Krieg. Georg war ein Gewinner. Die Verlierer starben zum Glück woanders.

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