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Nummer 5

Es fehlte. Nummer 1 war da, Nummer 2 sowieso, in Nummer 3 hatte sie sich schon verguckt und Nummer 4 tat ihr förmlich in den Augen weh, doch Nummer 5 konnte sie nicht entdecken. „Was ist los?“ Ihr Chef tauchte hinter ihr auf wie der Teufel, von dem niemand gerne spricht. Er hatte seine Lieblingswaffe, sein Klemmbrett, dabei. „Das Bild Nr. 5“ fehlt erklärte sie, um eine feste Stimme bemüht. Ihr Chef studierte das Papier auf seinem Klemmbrett. „Fruchtbarkeit!“ erklärte er.  Das musste der Name des fehlenden Kunstwerkes sein, doch aus seinem Mund klang das Wort absurd, wie eine Art von Ausschlag. Sie musste Fruchtbarkeit finden.

Wie gemalt

In der rechten Hand hielt er ein Buch, in der linken Hand einen Apfel. Das Buch hatte Seiten, aber keine Buchstaben und der Apfel war aus Wachs. Auch sonst verhielt sich die gesamte Situation grotesk. Die Tatsache, dass er splitternackt war, störte ihn eigentlich noch am wenigsten. Ob er wohl kurz seufzen durfte oder würde das die Künstlerin aus dem Konzept bringen? Wäre das absurd teure Bild dann ruiniert? Er beschloss, es darauf ankommen zu lassen und atmete geräuschvoll aus. Keine Reaktion. Die Künstlerin schien gerade mit einem delikaten Teil beschäftigt zu sein. Er versuchte, an etwas Großes zu denken.

Die alte Frau und das Meer

Durch das Schaukeln des Schiffes war ihr ein wenig schwindelig, aber sie ließ sich nichts anmerken. Andererseits ignorierten die Männer sie ohnehin, wie sie dort an der Reling stand, mit ihren von  Arthritis zusammengekrümmten Fingern. Sie war unsichtbar. Nur eine alte Frau, die irgendwie das Geld für eine Überfahrt zusammengekratzt hatte. Sie schaute aufs Meer hinaus. Noch war der Wellengang für die erfahrenen Matrosen nicht der Rede wert. Die wenigen Wolken am Himmel mussten jedem harmlos erscheinen, der nicht wusste, was auf dem Zettel in ihrer rechten Hand stand. Es war nur ein Wort in einer sehr alten Sprache: Untergang.

Das Automobil

Ich liebte dieses Automobil über alles. Keiner meiner Freunde oder Nachbarn besaß ein eigenes motorisiertes Fahrzeug und ich genoss ihre bewundernden Blicke auf mein kraftvolles Schätzchen jedes Mal. Nur Heidi, meine Verlobte, zeigte sich immer betont gleichgültig, wenn ich sie abholte, dabei wurde sie von all ihren Freundinnen aufs Schärfste beneidet. Deren Verehrer waren durchweg unmotorisiert. Mehr noch als Heidis Mangel an Bewunderung störten mich freilich ihre seltsamen Aussagen. Sie fand unsere langen Spazierfahrten langweilig und meinte erst kürzlich zu mir, dass in Zukunft alle Automobile ein Radio haben würden. Das war eine Schnapsidee. Frauen verstehen einfach nichts von Autos.

Drei Dinge

Das war absurd. Ich starrte auf die drei Dinge, die vor mir auf dem Tisch lagen: ein Globus, an dem ein Kabel mit einem Stecker hing, was wohl bedeutete, dass er gleichzeitig eine Lampe war, ein runder, schwarzer Magnet, mit dem man Notizen an eine Wand heften kann, und ein Tennisball, der aussah wie frisch aus der Verpackung genommen. „Was soll ich damit anfangen?“ fragte ich die Frau mit der Stoppuhr. Sie antwortete nicht. „Ist das irgendein schräger Persönlichkeitstest?“ Sie ignorierte mich weiter. Vielleicht sollte ich ihr den Tennisball einfach an den Kopf werfen. Einen besseren Plan hatte ich nicht.

Der Hut

Jeden Morgen, wenn Melanie den Trödelladen betrat, in dem sie seit gut vier Jahren arbeitete, fiel ihr Blick zunächst auf den Filzhut. Er war im Laufe der Zeit durch den Raum gewandert, von der linken Seite, zur Mitte, zur rechten Seite und wieder zur Mitte. Doch egal, wo er gerade lag, Melanie sah ihn immer sofort. Er war langweilig, nicht schön genug, um sich für einen Retro-Look zu eignen und nicht hässlich genug für ein Kostüm. Sie hätte ihn schon längst aussortieren sollen, er würde sich nie verkaufen, aber auf seltsame Art vermittelte er ihr Geborgenheit. Er war immer da.

Der Sommer der Unabhängigkeit

Ihr ganzes Leben lang  ist sie perfekt gewesen. Erst die perfekte Tochter, die ihren Eltern gehorchte, dann die perfekte Hausfrau, die ihrem Mann jeden Wunsch von den Lippen ablas. Diese Person gab es jetzt nicht mehr. Der Sommer 1934 war ihr Sommer der Unabhängigkeit. Sie tat nur noch, was sie wollte, wann sie es wollte. So lange sie es noch konnte. Bald würde alles in sich zusammenstürzen. Sie besaß kein eigenes Einkommen, sie wusste nicht, wohin sich ihr Mann mit seiner blutjungen Geliebten abgesetzt hatte und jeder würde ihr die Schuld geben. Die Zeit bis dahin wollte sie einfach nur genießen.

Lange Schlange

Eine lange Schlange war im Supermarkt an einem Samstagvormittag nicht wirklich außergewöhnlich, aber dieses bräunliche, leicht gelblich schimmernde Reptil hier in der Obstabteilung zu sehen war doch eine Überraschung. Melissa kannte sich nicht mit Schlangen aus, daher konnte sie die Art nicht bestimmen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass das Reptil irgendjemandes Haustier ist und ausgebüxt war. Jetzt lag die Schlange mit einem bei näherer Betrachtung recht gelangweilten Blick auf den Boskoop Äpfeln und rührte sich kaum. Melissa spürte keine Angst, im Gegensatz zu dem Mann, der leichenblass neben ihr stand. Er könnte einen Apfel jetzt verdammt gut gebrauchen.

Nur eine Axt

Eine Axt zu besitzen ist kein Verbrechen. Es handelt sich bei einer Axt um ein ganz normales Werkzeug, das Menschen schon seit Jahrtausenden benutzen, beispielsweise, um Feuerholz zu hacken. Nun besitzt Tessa zwar keinen Kamin, aber deswegen kann sie trotzdem Holz hacken. Es ist also wirklich nichts Verdächtiges daran, eine Axt im Werkzeugschuppen zu haben. Aus diesem Grund sieht Tessa es ganz locker, dass ihr neuer Nachbar gefragt hat, ob er sich ihre Axt ausborgen kann. Er weiß sicher nichts, das er nicht wissen soll. Andererseits hat er ebenfalls keinen Kamin. Tessa kann nichts riskieren. Sie wird ihre Axt brauchen.

Die neue Wohnung

Der Umzug in die neuen Wohnung sollte für Manuel ein Startschuss sein. Jetzt lebte er einen Alptraum. Ständig erhielt er diese seltsamen Anrufe. Diesmal war es eine junge, weibliche Stimme, die nervös klang. „Herr Bergmann? “ fragte sie. „Ja, Bergmann hier“ erwiderte er wenig freundlich. Er ahnte bereits Böses.  „Ich wollte nachfragen, wann wir mit dem Buch rechnen können?“ erklang  wieder ihre zögerliche Stimme. „Welches Buch?“ fragte er genervt. „Das Buch über die …“ Sie zögerte „Sachen im Rathaus. Die Sexsachen.“ Manuel legte auf. Es vergingen noch Wochen, bis er erfuhr, dass der Vormieter ebenfalls Bergmann hieß – und Autor für Pornofilme war.

Rache ist kein Schokopudding

Auch wenn ein Schokopudding mal nicht perfekt gelingt, schmeckt er immer noch gut. Es passiert einfach nicht, dass man von Schokolade enttäuscht wird.  Bei Rache ist das anders. Mia hatte sich in ihrem Kopf alles perfekt ausgemalt. Wie sie ihn in seiner eigenen Wohnung überraschen würde, wie sie ihm die Waffe unter die Nase hält und ihn zwingt, sich für alles zu entschuldigen. Jetzt stand sie in seinem Wohnzimmer, hielt die Waffe auf ihn gerichtet und er ruinierte alles. Heulend und zitternd saß er auf dem Boden, vor Angst bekam er kein Wort über die Lippen. Kein Schokopudding, nur Realität.

Schwere Entscheidung

Es war früher Abend, durch das geöffnete Fenster waberte der Geruch von gegrilltem Fleisch herein und ich saß hier mit der Wahl zwischen Pest und Cholera. Ich wollte beides nicht. Da aber nun einmal eine Entscheidung fallen musste, holte ich mir den Würfel aus der Monopoly-Packung und erklärte: „Wenn ich eins, zwei oder drei werfe, nehme ich den Regenbogen, bei vier, fünf oder sechs nehme ich die Sternschnuppe. Alles klar?“ Meine kleine Schwester nickte lächelnd. Selbstverständlich konnte sie noch gar nicht zählen, aber solange ich am Ende eines der beiden Bilder ausmalte, war ihr alles recht. Sie konnte nur gewinnen.

Die Vogelscheuchen

Sie trugen bunte Sachen, waren geschmückt mit farbenfrohen Blättern und ihre aufgestickten Münder lächelten – und doch spürte Lily, dass sie böse waren. Mit ihren sieben Jahren wusste Lily nicht viel über das Böse, aber manche Dinge muss man nicht verstehen, um sie zu erkennen. Leider waren die Erwachsenen nicht so aufmerksam. Lilys Eltern machten, wie Stadtmenschen das so tun, wenn sie zum Urlaub aufs Land fahren, permanent Fotos und irritierten die Einwohner. Lily behielt lieber die Vogelscheuchen im Auge. Sie war zu schlau, ihnen den Rücken zu zukehren. Sie hörte ein Wispern. Vielleicht war es der Wind in den Bäumen.

Die Story des Jahres

Was für ein Glück er doch hatte! Andere Menschen in seiner Position mussten über Regimewechsel, Weltraummissionen oder Firmenübernahmen berichten, er dagegen durfte live dabei sein, wenn eine Ampel feierlich enthüllt wurde. Ganz zu schweigen von den vielen aufregenden Ereignissen wie dem Verschwinden eines Rosenbusches oder der Delle im Garagentor der Bürgermeisterin, die gar kein Auto besaß. Ja, Kleinstadtjournalismus war ein Traum. Jetzt wurde ihm sogar die Ehre zuteil, über die Story des Jahres zu berichten: die Brücke über dem Fischweiher war einem Unwetter zum Opfer gefallen. Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die internationale Presse aufschlug.

Die Rache des Hofnarren

Gekrönte Häupter aus aller Welt lassen sich von ihm verspotten. Mit tosendem Applaus. Niemand versteht es so meisterhaft wie er, die Grenzen der Narrenfreiheit auszuloten. Es ist seine Gabe, sich ungeschoren über Menschen lustig zu machen, die seinen Kopf jederzeit auf einen Pfahl spießen könnten. Umso mehr schmerzt ihn die Demütigung, die er durch diese Prinzessin erfahren hat. Nicht wie ein Narr, sondern wie ein Tölpel hatte sie ihn aussehen lassen. Ihn, den großen Marko! Das verlangt nach Rache. Er wird sie dazu bringen, freiwillig einen schleimigen Frosch zu küssen. Noch in hunderten Jahren sollen Eltern ihren Kindern davon erzählen!

Die Cousine

Sie konnte einfach alles besser als ich. Sie war sportlicher, klüger, witziger und natürlich hübscher. Vermutlich war eifersüchtig auf meine Cousine zu sein das einzige, was ich besser konnte als sie. Sicher war ich mir da aber auch nicht.  Um ihre eigene Perfektion beneidete sie sich wahrscheinlich selbst manchmal. Es gab für mich keine Möglichkeit, sie zu besiegen. Wenn ich eine gute Note schrieb, gewann sie irgendeinen Preis. Wenn mir ein netter Witz gelang, riss sie das ganze Abendprogramm an sich. Sollte ich jemals ein Land erobern, würde sie wahrscheinlich den Mars einnehmen. Ich wünschte, ich könnte sie wenigstens hassen.

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