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Brotzeit

Um Punkt Sechzehn Uhr musste das Brot auf dem Tisch stehen. Selbstgebacken, natürlich. Frisch noch dazu. Hermann bestand seit dreißig Jahren darauf. Seit verfluchten dreißig Jahren! Inzwischen hießen ihre Glühbirnen „Energiesparlampen“, die Telefone waren klug wie Computer und die Computer klein wie Telefone, aber Hermann bestand wie eh und je auf seiner verdammten Brotzeit.  Erna hatte es satt. Nicht das Brot, ihr Brot war einfach vorzüglich, aber Hermanns Unbeweglichkeit ging ihr gewaltig auf die Nerven. Es würde heute wieder eine Brotzeit geben, mit selbstgebackenem Brot, ganz frisch. Nur eine Zutat würde anders sein: bisher hatte sie noch nie Rattengift verwendet.

Max & Marvin

Sie spazierten nebeneinander über den Bürgersteig, den warmen Asphalt unter ihren Füßen. Max genoss die Geräusche und Gerüche der Stadt, die ihm so vertraut waren. Unbeschwert nickte er den Menschen zu, die ihnen begegneten. Die meisten ignorierten ihn, aber das war ihm egal. Diese Achtlosigkeit gab ihm Sicherheit. Er wusste, dass man ihn in Ruhe ließ. Marvin erging es ganz anders. Er kam vom Land, war erst seit Kurzem in der Stadt und traute sich nicht, Max von der Seite zu weichen. Diese vielen Menschen machten ihm Angst. Wo er herkam, wagten sich Tauben nicht so nahe an Menschen heran.

Der Reifensammler

„Aber wozu?“ Der junge Mann konnte es nicht verstehen. Kopfschüttelnd blickte er auf den Berg alter Reifen, der nur einer von vielen dieser Art auf dem Grundstück war. Herbert zuckte kaum merklich mit den Achseln: „Er mochte es halt“. Diese Worte schienen den Jungspund noch fassungsloser zu machen. Herbert beschloss, das Gespräch auf seine übliche Weise zu beenden: er ging einfach weg. Natürlich war es merkwürdig gewesen, dass der alte Josef bis kurz vor seinem Tod diese ganzen abgenutzten, wertlosen Reifen gesammelt hatte. Jetzt mussten sich seine Erben um die Entsorgung kümmern. Vielleicht war es doch gar nicht so merkwürdig.

Der letzte Sommer

Das Land begann sich zu verändern. Viele ihrer Nachbarn und Verwandten wollten dies nicht wahrhaben, aber die drei Freundinnen waren lange genug auf der Welt, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Sie hatten schon einen großen Krieg erlebt. Damals, als sie viel jünger waren. „Lasst uns noch einmal ans Meer fahren“ schlug Magda den beiden anderen Frauen, die sie gefühlt schon ein ganzes Leben kannte, vor. Sie war die Älteste, aber nie zuvor hatte sie eine Unternehmung angestoßen. Bettina und Klara sahen sich einen Augenblick lang an. „Das ist eine sehr gute Idee“ erwiderte Bettina schließlich. Noch einmal verreisen.

Philosophie eines Sportlehrers

Bevor ich Sportlehrer wurde, war ich ein sehr ehrlicher Mensch. Ich hielt mit meiner Meinung selten hinter dem Berg. Heute verfolge ich eine Philosophie der schmerzfreien Lüge, denn die Wahrheit tut zu sehr weh. Ich sage dem kleinen Carsten nicht, dass er dem Ball hinterher schnaubt wie eine asthmatische Dampflok und ich lasse Lina nicht anmerken, dass sie das Vorbild der Phrase „wie ein Mädchen werfen“ ist. Ich weiß, dass auf die Kinder, die ich unterrichte, noch viele Enttäuschungen warten, da müssen sie nicht wissen, dass sie die Koordination betrunkener Pinguine haben. Ich lache nur manchmal sehr lange. Oder weine.

Die Vogelscheuchen

Sie trugen bunte Sachen, waren geschmückt mit farbenfrohen Blättern und ihre aufgestickten Münder lächelten – und doch spürte Lily, dass sie böse waren. Mit ihren sieben Jahren wusste Lily nicht viel über das Böse, aber manche Dinge muss man nicht verstehen, um sie zu erkennen. Leider waren die Erwachsenen nicht so aufmerksam. Lilys Eltern machten, wie Stadtmenschen das so tun, wenn sie zum Urlaub aufs Land fahren, permanent Fotos und irritierten die Einwohner. Lily behielt lieber die Vogelscheuchen im Auge. Sie war zu schlau, ihnen den Rücken zu zukehren. Sie hörte ein Wispern. Vielleicht war es der Wind in den Bäumen.

Das traumhafte Sofa

„Ah!“ Der Schrei hallte durch das Treppenhaus. Das volle Gewicht des Sofas zog nun an meinen Armen und zwang mich dazu, es los zu lassen. Das teure Möbelstück krachte dumpf auf die Treppenstufen. „Was ist passiert?“ brüllte Tim von unten, in seiner Stimme die Besorgnis um sein geliebtes Sofa. „Ich habe mir den Rücken verrenkt!“ jammerte Mark und lehnte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Wand. Er warf mir einen hilfesuchenden Blick zu. Ich öffnete den Mund, als sich plötzlich die Perspektive änderte. Ich stand jetzt an Marks Position und spürte einen brutalen Schmerz im Rücken. Schreiend wachte ich auf.

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