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Die Story des Jahres

Was für ein Glück er doch hatte! Andere Menschen in seiner Position mussten über Regimewechsel, Weltraummissionen oder Firmenübernahmen berichten, er dagegen durfte live dabei sein, wenn eine Ampel feierlich enthüllt wurde. Ganz zu schweigen von den vielen aufregenden Ereignissen wie dem Verschwinden eines Rosenbusches oder der Delle im Garagentor der Bürgermeisterin, die gar kein Auto besaß. Ja, Kleinstadtjournalismus war ein Traum. Jetzt wurde ihm sogar die Ehre zuteil, über die Story des Jahres zu berichten: die Brücke über dem Fischweiher war einem Unwetter zum Opfer gefallen. Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die internationale Presse aufschlug.

Der König und sein Schreiber

In seinem Reich herrschte Frieden und Wohlstand. Den Menschen ging es gut, sie mussten keine Kriege, keine Hungersnot und keine Vertreibung befürchten. Der König könnte glücklich sein, wäre ihm nicht geradezu schmerzhaft langweilig. Er ließ seinen Schreiber zu sich kommen, einen Mann von vollkommener Humorlosigkeit, der über alle Vorgänge im Palast im Bilde war. „Was gibt es zu berichten?“ fragte der König ihn leicht hoffnungsvoll. Der Schreiber blickte in das Buch, das er immer mit sich führte, ehe er antwortete: „Es sind zwei Gläser zu Bruch gegangen, euer Majestät. Ich habe alles notiert.“ Der König wünschte, er könnte jemanden köpfen.

Der Astronaut

„Ist das ein Traum“ fragte ich, während mein Blick über die Ödnis streifte. „Nein“ erwiderte der Astronaut blechernd durch seinen Helm „du bist der erste Mensch, der ohne Raumanzug auf dem Mond spazieren kann. Barfuß!“ Peinlich berührt sah ich auf meine Füße. Ich trug tatsächlich keine Schuhe. Ich seufzte. Warum mussten alle Menschen, von denen ich träumte, solche Widerlinge sein? Moment, war er überhaupt … „Bist du ein Mensch?“ fragte ich ihn. Er grinste, obwohl ich sein Gesicht gar nicht sehen konnte. „Es gibt keine Schildkröten auf dem Mond!“ erwiderte er. Irgendwas sagte mir, dass dies eine lange Nacht werden würde.

Monster

Aus meinen Tränen der Angst waren längst Tränen der Wut geworden. Niemand wollte mir glauben, dass in meinem Schrank ein Monster lebte. Es sah aus wie eine riesige Schlange mit einem Kopf, aus dem lauter kleine Schlangen wuchsen. Ich hasste Schlangen. Wie konnte ich meine Familie nur überzeugen, dass ich nicht – wie hatte mein Papa es nochmal genannt – „fantasinierte“? Dann dachte ich daran, was mein großer Bruder mir erzählt hatte. Er sagte, dass ein Schlangenmonster niemals so gemein sein könnte wie der Schwarze Mann. Ich kannte den Schwarzen Mann nicht, aber vielleicht konnte er das Schlangenmonster ja für mich verjagen?

Die Gezeichneten

Es war Mittwochabend und das hieß Gruppentreffen. Wenn ich Gruppentreffen sage, dann meine ich drei Stunden in der Gesellschaft von acht Menschen, die voller Kummer, Wut, Scham und Verzweiflung waren. Ein Dutzend Menschen, die ihren Körper hassten. Sie nannten sich selbst „Die Gezeichneten“. Das war nicht meine Idee gewesen, als Gruppenleiter hätte ich so etwas nie vorgeschlagen. Andererseits war ich auch ein „Ungezeichneter“. Ich hatte mir nie ein Tattoo stechen lassen, das ich jetzt bitterlich bereute, das mein Selbstwertgefühl verletzte und in mir das Bedürfnis weckte, mich regelmäßig mit Gleichgesinnten auszutauschen. Die Gruppe war kostenlos, im Gegensatz zu einer Tattoo-Entfernung.

Die Rache des Hofnarren

Gekrönte Häupter aus aller Welt lassen sich von ihm verspotten. Mit tosendem Applaus. Niemand versteht es so meisterhaft wie er, die Grenzen der Narrenfreiheit auszuloten. Es ist seine Gabe, sich ungeschoren über Menschen lustig zu machen, die seinen Kopf jederzeit auf einen Pfahl spießen könnten. Umso mehr schmerzt ihn die Demütigung, die er durch diese Prinzessin erfahren hat. Nicht wie ein Narr, sondern wie ein Tölpel hatte sie ihn aussehen lassen. Ihn, den großen Marko! Das verlangt nach Rache. Er wird sie dazu bringen, freiwillig einen schleimigen Frosch zu küssen. Noch in hunderten Jahren sollen Eltern ihren Kindern davon erzählen!

Die Cousine

Sie konnte einfach alles besser als ich. Sie war sportlicher, klüger, witziger und natürlich hübscher. Vermutlich war eifersüchtig auf meine Cousine zu sein das einzige, was ich besser konnte als sie. Sicher war ich mir da aber auch nicht.  Um ihre eigene Perfektion beneidete sie sich wahrscheinlich selbst manchmal. Es gab für mich keine Möglichkeit, sie zu besiegen. Wenn ich eine gute Note schrieb, gewann sie irgendeinen Preis. Wenn mir ein netter Witz gelang, riss sie das ganze Abendprogramm an sich. Sollte ich jemals ein Land erobern, würde sie wahrscheinlich den Mars einnehmen. Ich wünschte, ich könnte sie wenigstens hassen.

Preiselbeer unter der Dusche

Emma war die Stille nicht mehr gewohnt. In den letzten Monaten hatte ihr Telefon ständig geklingelt, sie bekam unentwegt Besuch, jeder wollte etwas von ihr. Auch wenn sie gewusst hatte, dass dieser Rummel nicht ewig anhalten würde, spürte sie eine seltsame Leere. Sie griff nach dem Buch – „Preiselbeer unter der Dusche“. Dieser Titel war durch einen Online-Generator entstanden, aber das wussten ihre Leser natürlich nicht. Der Verlag hatte vehement darauf bestanden, dass sie sich eine Entstehungsgeschichte für den Titel ausdenkt. Als wäre ein 324-seitiger Roman an sich nicht schon Fiktion genug. Bald würden die Fragen nach einem neuen Werk kommen.

Das Herz des Königs

Tausende Meilen entfernt wurde gerade der neue König gekrönt. Sir Edwin war sich nicht sicher, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Omen bedeutete, als er die Stufen des kleinen Bergklosters hinaufstieg. Mit der hölzernen Schatulle unter dem linken Arm klopfte er an die schwere Tür. In Gedanken malte er sich das kommende Gespräch mit dem Abt aus. An seinen vorherigen Stationen war er freundlich empfangen, aber entschieden abgewiesen worden. Hier, am äußersten Rand des Reiches, zeigten sie sich vielleicht offener und gewährten dem Herz ihres alten Königs die letzte Ruhestätte. Sir Edwin presste die hölzerne Schatulle fest an sich.

Polo

Sie war so groß wie sie hässlich war. Diese furchtbare Statue stand seit vielen Jahren in unserem Vorgarten. Welcher normale Mensch stellt sich schon die lebensgroße Abbildung eines Polospielers vor das Haus? Kein normaler Mensch würde das tun, mein Vater allerdings schon. Dank ihm hießen wir überall nur „die Polos“, unser Haus war „das Polo-Haus“. Ich war mit dem sehnlichen Wunsch aufgewachsen, dieses Ding zu vernichten. Mit einem Vorschlaghammer, durch ein Feuer, mit einem Raketenwerfer, ganz egal. Nur leider traute ich mich nicht. Dann kam mir die Idee mit dem Gerücht. Menschen lieben schließlich Gerüchte. Es muss nur einer glauben.

Eine schmerzhafte Wunde

Er war so unglaublich tapfer. Obwohl er sicher große Schmerzen hatte, gab er keinen Laut von sich. Seine Augen hatten denselben lieben Ausdruck wie immer. „Er braucht Hilfe!“ Meine Stimme war ganz leise, ich fand es nicht richtig, laut zu sein. Laut wurde ich nur, wenn ich sauer war und ich war nicht sauer. Ich war traurig. Mit einer Hand strich ich ihm über den Kopf. „Du musst jetzt stillhalten“ flüsterte ich ihm zu. Die Nadel war klein, trotzdem schluckte ich bei ihrem Anblick. Meine Mutter lächelte mich an: „Keine Sorge!“ Dann nähte sie die Wunde an Teddys Arm zu.

Die weite Welt

„Es tut mir Leid, Vater, aber ich möchte nicht mein ganzes Leben damit verbringen, Heu auszufahren. Ich möchte etwas von der Welt sehen!“ Meine Worte klangen in meinen Ohren nach. Was bin ich doch für ein Schaf gewesen! Jetzt saß ich in dieser Nussschale von einem Schiff, das von den Wellen wild hin und her geschleudert wurde. Ich vermisste die Bäume, die Blumen, den Gesang der Vögel, aber ganz besonders vermisste ich den festen Boden. Eine weitere Welle traf das Schiff und warf mich gegen die Wand. Als ich mich aufrappelte, wartete schon die nächste Welle. Eine Welle der Übelkeit.

Die Rede

Noch waren alle Stühle unbesetzt. Ich fummelte nervös am Mikrofon, obwohl dieses bereits perfekt auf meine Größe eingestellt war. Hinter mir hörte ich den Techniker seufzen. Ich machte seinen Job sicher nicht einfacher. Es war nicht meine erste Rede, aber die erste Rede, seit es passiert ist. Niemand hatte das wirklich kommen sehen.  Wir hatten es uns vorgestellt, aber nie damit gerechnet, dass es so bald passieren würde. Ich wischte mit dem Ärmel über das Rednerpult, obwohl darauf nicht ein Staubkorn zu sehen war. Das gehörte sich jetzt wohl so für eine Partei, die gerade in den Bundestag eingezogen ist.

Das traumhafte Sofa

„Ah!“ Der Schrei hallte durch das Treppenhaus. Das volle Gewicht des Sofas zog nun an meinen Armen und zwang mich dazu, es los zu lassen. Das teure Möbelstück krachte dumpf auf die Treppenstufen. „Was ist passiert?“ brüllte Tim von unten, in seiner Stimme die Besorgnis um sein geliebtes Sofa. „Ich habe mir den Rücken verrenkt!“ jammerte Mark und lehnte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Wand. Er warf mir einen hilfesuchenden Blick zu. Ich öffnete den Mund, als sich plötzlich die Perspektive änderte. Ich stand jetzt an Marks Position und spürte einen brutalen Schmerz im Rücken. Schreiend wachte ich auf.

Es regnet

Chris war so aufgeregt. Deutlich konnte er das vertraute Prasseln hören, das die morgendliche Stille des Hauses durchbrach. „Es regnet“ dachte er überglücklich „es regnet tatsächlich!“ Er wusste natürlich ganz genau, was dies bedeutete. Es bedeutete Freiheit und Abenteuer. Der Regen würde ihn an Orte führen, an denen er nie zuvor gewesen ist, mit Menschen und Dingen, die er noch nicht kannte.  Das war eine wunderbare Abwechslung zu der Enge und Langeweile des Schirmständers. Chris war der schönste Regenschirm im ganzen Haus, das wusste er. Er war immer die erste Wahl, wenn jemand aus der Familie im Regen hinaus musste.

Ein Pirat trinkt Rum

„Oh, du bist ein Pirat!“ Onkel Frank lachte schallend, obwohl Piraten eigentlich nicht zum Lachen waren. Ich schob meine Augenklappe nach oben, um ihn besser sehen zu können, aber Onkel Frank zog sie gleich wieder runter. „Ohne Augenklappe bist du doch kein richtiger Pirat!“ rief er laut. Es gefiel mir nicht, wie er roch. „Weißt du, was du noch brauchst, um ein richtiger Pirat zu sein?“ fragte er, während er sich zu mir hinunter beugte: „eine Flasche Rum!“ Er lachte wieder: „ein Pirat trinkt Rum!“ Ich wusste nicht, was Rum war, aber ich hoffte, dass es nicht wie Tee schmeckte.

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