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Welches Schwein darf’s sein?

Alle sieben Sparschweine sahen genau gleich aus, aber nur in einem befand sich Geld. Es war nicht erlaubt, sie anzufassen,  geschweige denn hochzuheben. Mit einem Hammer durfte man auf gut Glück nur eines zerschlagen. So war das Spiel. Alex drehte den Hammer in seiner Hand. Er hatte jedes einzelne Schwein jetzt sicher schon zwanzig Minuten angestarrt, in der Hoffnung, einen Hinweis zu entdecken, aber da war einfach nichts. Langsam machten ihn die ausdruckslosen Gesichter der Porzellantiere richtig aggressiv. Er hob den Hammer. Mit einer Mischung aus Hoffnung und Resignation zerschlug er das dritte Schwein in der Reihe. Es war leer.

Lieber Dichter

Meine Hände zitterten immer ein wenig, wenn ich ihm schrieb. Vor einigen Tagen hatte mich sein neuestes Gedicht erreicht. Es war nicht so berührend wie das letzte und einige Worte wirkten irritierend auf mich. Lag es an mir? Er war schließlich ein großer Poet und ich nur der kleine Angestellte eines Verlages, der das Glück hatte, von diesem berühmten Mann als ein Freund betrachtet zu werden. Und doch … Möglicherweise bedrückte ihn etwas. Ich musste meine Worte an ihn mit Bedacht wählen. Ich begann meine Zeilen wie gewohnt mit „Lieber Dichter“. Auch in Gedanken sprach ich seinen Namen selten aus: Goethe.

Der Angriff

Hektisch rüttelte sie an dem Schlüssel, der sich völlig im Schloss verhakt hatte. Das passierte bei ihrer Haustür häufig, aber in diesem Moment war es das schlimmste, was ihr widerfahren konnte. Sie spürte die Bedrohung in ihrem Nacken.  Er kam näher, nur langsam zwar, aber unbestreitbar direkt auf sie zu. Panik überfiel sie. Für einen Moment dachte sie daran, das Feuerzeug in ihrer Tasche als Waffe zu benutzen, aber das erschien ihr gleich darauf lächerlich. Endlich löste sich der Schlüssel, aber die Tür blieb verschlossen. Jetzt war es zu spät. Er war neben ihr, berührte sie leicht. Dieser widerliche Käfer.

Blutspende

Mein Wagen zieht heute wieder sehr viel Aufmerksamkeit auf sich. Das war früher auch schon so gewesen, aber nach einem kurzen Moment der Neugierde hatte das Interesse immer schnell nachgelassen. Viel zu schnell. Ich musste eine Lösung finden. Schließlich ging es um Leben und Tod. Die Idee war mir spontan gekommen und ich bin nach wie vor ein wenig überrascht, wie gut sie funktioniert. Seit mein Blutspendemobil diese lustige Abbildung eines kleinen Vampirs, ganz echt mit Fangzähnen und Umhang, aber einem süßen Kindergesicht, als Erkennungsmerkmal trug, kamen die Spender in Scharen. Sie hielten es für Ironie. Mich machte es satt.

Die Angst

Er begann heftig zu schwitzen. Es war stickig in dem vollbesetzten Büro, aber daran lag es nicht. Der Laptop war der Grund. Das unscheinbare Gerät stand mitten auf dem Tisch, noch zugeklappt. Dieser Laptop würde sein Verderben sein. Diese wichtigen oder sich selbst für wichtig haltenden Männer und Frauen um ihn herum würden den Kopf über ihn schütteln. Ihn, den Anfänger. Ihr Missfallen wird ihnen ins Gesicht geschrieben sein. Sobald sie die neue Firmenwebseite aufrufen, wäre er entlarvt als nachlässig, unorganisiert, langsam. Gleich werden es alle erfahren. Die Zeit läuft ab. Sie werden entdecken, dass sein Büro kein WLAN hat.

Abweichendes Verhalten

„Noch ein Stückchen näher zusammen!“ Der Fotograf versuchte sich seine wachsende Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Die neunzehn Männer des Segelvereins waren nicht unbedingt der Traum eines jeden Fotografen. Sie waren unterschiedlich groß  und reichten von sehr fotogen bis zum genauen Gegenteil.  Einer war im Anzug gekommen, alle anderen in Sportkleidung. Er platzierte den Anzugträger in die Mitte. Etwas an dessen Entscheidung, sich herauszuputzen, stimmte den Fotografen nachdenklich. Zu kümmern schien den Mann sein Abweichen nicht.  Der Fotograf drückte den Auslöser. Zwei Wochen später erschien das Bild in der Vereinszeitung. Da hatte die Gestapo den Mann im Anzug schon fortgebracht.

Die Künstlerin

Wie an jedem Tag um diese Zeit saß Kerstin an dem kleinen Springbrunnen und zeichnete. Während sie den Bleistift über das Papier bewegte, entstanden in ihrem Kopf unzählige Bilder. Bilder von Fallschirmen am Himmel, die ein buntes Mosaik bildeten, von Blüten, die im Wind tanzten, von Wellen, die Treibholz mit sich trugen. Sie zeichnete immer schneller, der Bleistift kratzte laut auf dem Papier. Einige Passanten wollten einen Blick auf ihr Kunstwerk erhaschen, aber sie wusste das zu verhindern. Niemand sollte wissen, dass die Bilder in ihrem Kopf nur in ihrem Kopf blieben. Sie zeichnete nie etwas anderes als weinende Gesichter.

Der alte Mann

Herr Müllers Augen waren nicht mehr gut. Er brauchte eine Weile, bis er jedes Detail in dem Foyer des fremden Gebäudes erfasst hatte. Fest auf seinen Gehstock gestützt, bewegte der alte Mann sich langsam vorwärts. Früher suchten seine Wendigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit  ihres gleichen. Heute war der Gehstock sein unverzichtbarer Begleiter. Er hasste das Ding, es war hässlich und würdelos, aber es erfüllte seinen Zweck. Herr Müller stellte sich neben den Mann im grauem Anzug, der auf den Fahrstuhl wartete. Mit einer Bewegung stieß Herr Müller die ausgefahrene Spitze des Gehstocks in den Fuß des Mannes. Das Gift würde bald wirken.

Feurige Wette

„Helga, wo haben wir nochmal die Feuerlöscher?“

Er hatte diesen Satz heute schon sieben Mal gehört. Nur der Teil mit der Helga war neu. Davor war es Bernd gewesen, wenn er sich recht erinnerte. Oder doch Ben? Irgendwas mit B. In seinem Beruf als Feuerlöscherprüfer war es für ihn Alltag, Büros zu betreten, in denen niemand wusste, wo die Löschgeräte hingen. Er machte sich einen Spaß daraus, auf die erste Person, die von ihren Kollegen ausgewählt wurde, für die Feuerlöscher verantwortlich zu sein, zu wetten. Er tippte darauf, dass Helga es nicht wusste.

„Neben der Garderobe!“

Ein Punkt für Helga.

Das Meeting

Zaghaft hob er seine Hand, um zu signalisieren, dass er bereit war, heute zu sprechen. Seit er diese Meetings besuchte, hatte er erst drei oder vier Mal verbal etwas beigetragen. Meist saß er nur still auf seinem Stuhl und lauschte den Geschichten der anderen. Spannendes gab es dabei selten zu hören. Man könnte zwar meinen, dass Werwölfe ein sehr aufregendes Leben führen, dem war aber nicht so. Werwölfe schliefen ziemlich viel, außer natürlich an Vollmond. Er stand auf. Nachdem er seinen Namen genannt hatte, erzählte er von seinem letzten Opfer. Sie hieß Magda und war eine sehr schöne Kuh gewesen.

Unbekanntes Terrain

Der Lichtkegel der Taschenlampe streifte die zerklüftete Wand, vielleicht zum ersten oder schon zum sechzigsten Mal, das wusste er nicht genau. An diesem Ort sah alles gleich aus. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es gibt in diesem Jahrhundert nicht mehr viele Menschen, die von sich behaupten können, sich in einer ägyptischen Pyramide verlaufen zu haben. Das passiert nur noch Charakteren in Horrorfilmen oder ungeschickten Archäologen. Er war leider kein Charakter in einem Horrorfilm. Auf hilfreiche Geräusche hoffend, beendete er die gedankliche Unterhaltung mit sich selbst. Es war nichts zu hören. Nur sein eigener Atemzug als die Taschenlampe erlosch.

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