Schlagwort: Er (Seite 3 von 3)

Es regnet

Chris war so aufgeregt. Deutlich konnte er das vertraute Prasseln hören, das die morgendliche Stille des Hauses durchbrach. „Es regnet“ dachte er überglücklich „es regnet tatsächlich!“ Er wusste natürlich ganz genau, was dies bedeutete. Es bedeutete Freiheit und Abenteuer. Der Regen würde ihn an Orte führen, an denen er nie zuvor gewesen ist, mit Menschen und Dingen, die er noch nicht kannte.  Das war eine wunderbare Abwechslung zu der Enge und Langeweile des Schirmständers. Chris war der schönste Regenschirm im ganzen Haus, das wusste er. Er war immer die erste Wahl, wenn jemand aus der Familie im Regen hinaus musste.

Ein Pirat trinkt Rum

„Oh, du bist ein Pirat!“ Onkel Frank lachte schallend, obwohl Piraten eigentlich nicht zum Lachen waren. Ich schob meine Augenklappe nach oben, um ihn besser sehen zu können, aber Onkel Frank zog sie gleich wieder runter. „Ohne Augenklappe bist du doch kein richtiger Pirat!“ rief er laut. Es gefiel mir nicht, wie er roch. „Weißt du, was du noch brauchst, um ein richtiger Pirat zu sein?“ fragte er, während er sich zu mir hinunter beugte: „eine Flasche Rum!“ Er lachte wieder: „ein Pirat trinkt Rum!“ Ich wusste nicht, was Rum war, aber ich hoffte, dass es nicht wie Tee schmeckte.

Angst machen

Sie würde am Abend ganz alleine in der halb verfallenen Hütte sein. Während eines Gewitters. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie bei jedem Blitz zusammenzucken wird. In seinem Kopf malte er sich all die Möglichkeiten aus, sie zu erschrecken. Er freute sich darauf, sie richtig in Angst zu versetzen, ihr einen Schauer nach dem anderen über den Rücken zu jagen. In seiner Fantasie war sie bereits ein Häufchen Elend. Er dachte an Wolfsgeheul in der Ferne und plötzliches Klopfen an der Tür. Seine Gedanken kreisten immer wilder. Er konnte es wirklich kaum noch erwarten, die Geschichte endlich zu schreiben.

Das Ende

Er sprach noch immer aufgeregt in sein Telefon. Gelegentlich sah er mit verächtlichem Blick zu mir herüber, um mich dann wieder zu ignorieren. Ich biss in meinen Apfel und bemühte mich, besonders laut zu sein, was die erhoffte Wirkung zeigte. Er sah mich wieder voller Abscheu an. Schließlich beendete er sein Telefonat und kam mit langsamen Schritten auf mich zu. Er holte ein paar Mal Luft, ehe er sprach: „Also gut, ja, das ist das Ende des Regenbogens, ich bin ein Kobold und so weiter.“ Zufrieden warf ich meinen angebissenen Apfel ins Gebüsch: „Ich hätte mein Gold gerne in Dollar!“

Das Würfelspiel

Die letzten beiden Spiele hatte Edgar verloren. Wütend schüttelte er die Würfel in seiner Hand, während Maurice sein übliches, dummes Lächeln auf dem Gesicht hatte. „Wirfst du auch noch?“ fragte Maurice und grinste sogar noch ein bisschen dümmer, falls das überhaupt möglich war. Edgar wollte nicht wieder verlieren. Wenn es nur um Geld ginge, wäre er nicht so empfindlich, aber es ging um die Aufgabe. Wie jeden Abend saßen sie in dem dunklen Turm, durch den der Wind laut pfiff, und hielten Wache. Keine schöne, aber lohnende Arbeit. Wäre da nicht die Aufgabe. Diesmal musste er einfach gewinnen. Er warf.

Vorsicht, Gefahr!

„Als ich jung war, gingen dauernd diese Kettenbriefe herum“ erzählte der Mann mit tiefer Stimme „ich hab das ja auch nie ernst genommen, bis …“ Der Barkeeper verdrehte innerlich die Augen, ließ sich aber nichts anmerken. In seinem Beruf hörte er viele Stories. „… ich einmal einen Kettenbrief zerrissen habe“ fuhr der Mann fort. „Am nächsten Tag stürzte ich vom Fahrrad und brach mir das Bein.“ Der Barkeeper schwieg. Sein Gast sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an: „Du denkst, ich spinne?“ Bevor der Barkeeper antworten konnte, reichte ihm der Mann einen zerknitterten Briefumschlag rüber: „Na los, zerreiß ihn!“ Dem Barkeeper wurde schlecht.

Das Missgeschick des Zauberlehrlings

Er hatte eindeutig ein Problem. Ein ziemlich großes Problem sogar. Ein großes, starr vor sich hin blickendes, merkwürdig den Kopf bewegendes und – Oh Himmel! – leicht sabberndes Problem. Der Zauberlehrling  konnte nicht fassen, dass er tatsächlich seinen Meister in Hypnose versetzt hatte. Das war nicht seine Absicht gewesen, ganz und gar nicht. Verdammter Zauberstab! Sein Meister war jetzt nur noch eine leere Hülle, darauf wartend, zu sein oder zu tun, was auch immer der Lehrling ihm befehlen würde. Die Aussichten waren schon verlockend, das musste er zugeben. Er wünschte nur, es wäre nicht mitten in seiner Abschlussprüfung passiert. Das war übel.

Quo vadis?

Seine Hand umklammerte den Weinbecher so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er hatte um Unterhaltung gebeten und was hatten sie ihm geschickt? Einen Leierspieler! Was bitte war an einer Leier unterhaltsam? Er war der Kaiser von Rom, verdammt nochmal! Verdrießlich ließ er seinen Blick über seine Berater und Bediensteten fahren. Sie waren nur langweilige Speichellecker, nichts weiter. Er stellte sich vor, wie er einen nach dem anderen von seinen Soldaten ermorden ließ. Das heiterte ihn auf. Er konnte das Blut förmlich riechen. Dann spürte er den heißen Schmerz des Dolches in seiner Brust. Der Leierspieler hatte ein Überraschungsprogramm mitgebracht.

Es war einmal alles besser

„Es macht einfach keinen Spaß mehr!“ Der Märchenprinz schüttelte betrübt den Kopf. „Früher waren die Frauen so dankbar, heute wollen sie sich alle selbst retten und wehe, du versuchst sie mit einem Kuss zu erlösen!“ Er nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Rapunzel verlangt jetzt, dass ich eine Leiter mitbringe, Schneewittchen weigert sich, vergiftete Äpfel zu essen, die nicht aus biologischem Anbau sind, und Dornröschen kann nicht mehr ohne iPod schlafen.“ Erschöpft fuhr sich der Märchenprinz  mit der Hand durchs Haar.  „Man muss jetzt immer an so vieles denken, das schaffe ich gar nicht mehr. Vielleicht sollte ich Bösewicht werden.“

Tempo 120

Seine Frau hasste es, wenn er so schnell fuhr. Er hatte ihr versprochen, rücksichtsvoller und vorsichtiger zu sein, auch dann, wenn sie nicht neben ihm saß. Nicht, dass ihm dieses Versprechen nichts bedeutete, aber gerade jetzt konnte er keine Rücksicht darauf nehmen. Er durfte nicht zu spät kommen. Das war keine Option. Viel zu selten bot sich ihm eine solche Gelegenheit. Endlich näherte er sich der Stelle. Pure Erleichterung durchströmte ihn, als er sah, dass der Anhalter noch dort stand. Der Anhalter, von dem er zwei Kollegen hatte sprechen hören. Den sicher niemand mitnehmen würde. Niemand, der kein Verrückter war.

Welches Schwein darf’s sein?

Alle sieben Sparschweine sahen genau gleich aus, aber nur in einem befand sich Geld. Es war nicht erlaubt, sie anzufassen,  geschweige denn hochzuheben. Mit einem Hammer durfte man auf gut Glück nur eines zerschlagen. So war das Spiel. Alex drehte den Hammer in seiner Hand. Er hatte jedes einzelne Schwein jetzt sicher schon zwanzig Minuten angestarrt, in der Hoffnung, einen Hinweis zu entdecken, aber da war einfach nichts. Langsam machten ihn die ausdruckslosen Gesichter der Porzellantiere richtig aggressiv. Er hob den Hammer. Mit einer Mischung aus Hoffnung und Resignation zerschlug er das dritte Schwein in der Reihe. Es war leer.

Die Angst

Er begann heftig zu schwitzen. Es war stickig in dem vollbesetzten Büro, aber daran lag es nicht. Der Laptop war der Grund. Das unscheinbare Gerät stand mitten auf dem Tisch, noch zugeklappt. Dieser Laptop würde sein Verderben sein. Diese wichtigen oder sich selbst für wichtig haltenden Männer und Frauen um ihn herum würden den Kopf über ihn schütteln. Ihn, den Anfänger. Ihr Missfallen wird ihnen ins Gesicht geschrieben sein. Sobald sie die neue Firmenwebseite aufrufen, wäre er entlarvt als nachlässig, unorganisiert, langsam. Gleich werden es alle erfahren. Die Zeit läuft ab. Sie werden entdecken, dass sein Büro kein WLAN hat.

Abweichendes Verhalten

„Noch ein Stückchen näher zusammen!“ Der Fotograf versuchte sich seine wachsende Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Die neunzehn Männer des Segelvereins waren nicht unbedingt der Traum eines jeden Fotografen. Sie waren unterschiedlich groß  und reichten von sehr fotogen bis zum genauen Gegenteil.  Einer war im Anzug gekommen, alle anderen in Sportkleidung. Er platzierte den Anzugträger in die Mitte. Etwas an dessen Entscheidung, sich herauszuputzen, stimmte den Fotografen nachdenklich. Zu kümmern schien den Mann sein Abweichen nicht.  Der Fotograf drückte den Auslöser. Zwei Wochen später erschien das Bild in der Vereinszeitung. Da hatte die Gestapo den Mann im Anzug schon fortgebracht.

Feurige Wette

„Helga, wo haben wir nochmal die Feuerlöscher?“

Er hatte diesen Satz heute schon sieben Mal gehört. Nur der Teil mit der Helga war neu. Davor war es Bernd gewesen, wenn er sich recht erinnerte. Oder doch Ben? Irgendwas mit B. In seinem Beruf als Feuerlöscherprüfer war es für ihn Alltag, Büros zu betreten, in denen niemand wusste, wo die Löschgeräte hingen. Er machte sich einen Spaß daraus, auf die erste Person, die von ihren Kollegen ausgewählt wurde, für die Feuerlöscher verantwortlich zu sein, zu wetten. Er tippte darauf, dass Helga es nicht wusste.

„Neben der Garderobe!“

Ein Punkt für Helga.

Das Meeting

Zaghaft hob er seine Hand, um zu signalisieren, dass er bereit war, heute zu sprechen. Seit er diese Meetings besuchte, hatte er erst drei oder vier Mal verbal etwas beigetragen. Meist saß er nur still auf seinem Stuhl und lauschte den Geschichten der anderen. Spannendes gab es dabei selten zu hören. Man könnte zwar meinen, dass Werwölfe ein sehr aufregendes Leben führen, dem war aber nicht so. Werwölfe schliefen ziemlich viel, außer natürlich an Vollmond. Er stand auf. Nachdem er seinen Namen genannt hatte, erzählte er von seinem letzten Opfer. Sie hieß Magda und war eine sehr schöne Kuh gewesen.

Unbekanntes Terrain

Der Lichtkegel der Taschenlampe streifte die zerklüftete Wand, vielleicht zum ersten oder schon zum sechzigsten Mal, das wusste er nicht genau. An diesem Ort sah alles gleich aus. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es gibt in diesem Jahrhundert nicht mehr viele Menschen, die von sich behaupten können, sich in einer ägyptischen Pyramide verlaufen zu haben. Das passiert nur noch Charakteren in Horrorfilmen oder ungeschickten Archäologen. Er war leider kein Charakter in einem Horrorfilm. Auf hilfreiche Geräusche hoffend, beendete er die gedankliche Unterhaltung mit sich selbst. Es war nichts zu hören. Nur sein eigener Atemzug als die Taschenlampe erlosch.

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