Monat: März 2018 (Seite 2 von 2)

Vollendung

Mein Blick schweifte über das, was einmal ein einladendes Wohnzimmer gewesen war. Jetzt herrschte das pure Chaos. Das Sofa und die Sessel waren aufgeschlitzt, zwei Regale umgeworfen und Stücke des Teppichs fehlten. Hier in New York überraschte mich nicht mehr viel, aber dieser Tatort war grotesk. Eine Kollegin in Uniform überreichte mir das im durchsichtigen Beutel verschlossene Beweisstück. Ich betrachtete es von allen Seiten. Man konnte wenig darauf erkennen, aber ich wusste bereits, dass das komplette Puzzle ein Sternbild ergab. Dieses letzte Teil hatte der Verdächtige gesucht. Erst verzweifelt, dann rasend. Es zu verstecken hatte seinem Mitbewohner das Leben gekostet.

Besuch beim Arzt

Der junge Arzt, ich schätzte ihn auf Anfang oder Mitte 30, sah erst mich an, dann die Akte in seiner Hand, daraufhin wieder mich und schließlich erneut die Akte. Die Reaktion überraschte mich nicht. Manchmal machte ich mir einen Spaß daraus, neue Ärzte aus der Fassung zu bringen, aber heute war mir nicht danach. Mein Kopf hämmerte. „Ich brauche etwas gegen Kopfschmerzen“ erklärte ich ganz sachlich. Freilich brachte ihn das auch aus dem Konzept. Niemand würde je vermuten, dass ich wegen meines Kopfes in einer Arztpraxis war. Mein Kopf sah völlig normal aus. Er war nicht grün oder hatte scharfe Krallen.

Der Reifensammler

„Aber wozu?“ Der junge Mann konnte es nicht verstehen. Kopfschüttelnd blickte er auf den Berg alter Reifen, der nur einer von vielen dieser Art auf dem Grundstück war. Herbert zuckte kaum merklich mit den Achseln: „Er mochte es halt“. Diese Worte schienen den Jungspund noch fassungsloser zu machen. Herbert beschloss, das Gespräch auf seine übliche Weise zu beenden: er ging einfach weg. Natürlich war es merkwürdig gewesen, dass der alte Josef bis kurz vor seinem Tod diese ganzen abgenutzten, wertlosen Reifen gesammelt hatte. Jetzt mussten sich seine Erben um die Entsorgung kümmern. Vielleicht war es doch gar nicht so merkwürdig.

Blaulichter

Als ich in die Straße einbog, tanzten sofort unzählige Blaulichter vor meinen Augen. Ich spürte, wie mich die Emotionen überwältigten. Ich war beunruhigt, ängstlich, nervös und absolut erleichtert. Endlich hatten sie seine Leiche gefunden! Seit geschlagenen drei Tagen wartete ich bereits darauf. Meinen ehemaligen Geschäftspartner hatte die letzten 72 Stunden offenbar niemand vermisst. Das wunderte mich nicht besonders. Der Saturn bekam mehr Besuch als dieser Mann. Im Vorbeifahren warf ich einen Blick auf die Polizeiautos. Mein Herz setzte für einen Moment aus, als ich realisierte, dass sie vor dem falschen Haus standen. Fassungslos drehte ich mich um. Dann krachte es markerschütternd.

Ende

Aus der Traum. Ende Gelände. Schicht im Schacht. Gerd fallen viele Redewendungen ein, um an das eine Wort nicht denken zu müssen: Versagen. Er hatte einen verrückten Traum gehabt und war damit auf die Nase gefallen. Er konnte jetzt den Handwerkern die Schuld geben, die ihn über einen Tisch gezogen haben, denn sie selbst nie im Leben zimmern könnten, oder der Bank, die ihm kein Geld mehr leihen wollte, obwohl er bei jedem verdammten Meeting eine Krawatte getragen hatte. Das half ihm aber auch nicht weiter. So viel ärmer er um Euros war, so viel reicher war er an Erfahrung.

Der Sommer der Unabhängigkeit

Ihr ganzes Leben lang  ist sie perfekt gewesen. Erst die perfekte Tochter, die ihren Eltern gehorchte, dann die perfekte Hausfrau, die ihrem Mann jeden Wunsch von den Lippen ablas. Diese Person gab es jetzt nicht mehr. Der Sommer 1934 war ihr Sommer der Unabhängigkeit. Sie tat nur noch, was sie wollte, wann sie es wollte. So lange sie es noch konnte. Bald würde alles in sich zusammenstürzen. Sie besaß kein eigenes Einkommen, sie wusste nicht, wohin sich ihr Mann mit seiner blutjungen Geliebten abgesetzt hatte und jeder würde ihr die Schuld geben. Die Zeit bis dahin wollte sie einfach nur genießen.

Ersatzhelden

Im Nachhinein betrachtet war es wirklich keine gute Idee gewesen, alle aktiven Superhelden der Welt an einem Ort zu versammeln. Von jetzt auf gleich hatte die Menschheit ihre Beschützer, ihre Retter, ihre Legenden verloren. Die Politiker, die sich immer hinter den Helden verstecken konnten, mussten plötzlich mit einer Lösung kommen – und das beste, was ihnen eingefallen ist, sind wir. Die „Ersatzhelden“. So nennt uns zumindest die Presse und ich finde, dass ist noch ziemlich freundlich ausgedrückt. Oh, natürlich verfügen wir auch über Superkräfte, aber dazu haben wir noch diverse Phobien, Suchterkrankungen, Vorstrafen und Macken. Im Versagen sind wir echt super.

Shit!

Es war nicht sehr wahrscheinlich und das Ziel lag bereits in Sichtweite, aber so ganz wollte ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass doch noch ein Komet den Schulbus trifft. Das käme mir wirklich äußerst gelegen. Ich hatte mal wieder vergessen, für den Vokabeltest zu lernen – und mit vergessen meine ich, dass ich lieber ferngesehen habe. Jetzt war ich auf dem direkten Weg, einen weiteren Nagel in den Sarg zu schlagen, der mein Halbjahreszeugnis war. „Shit“ nannte man das, bis dahin reichte mein Englisch. Meine Klassenlehrerin, die mich auf den Tod nicht ausstehen konnte, wird sich freuen. Wenigstens eine ist glücklich.

Der Profi

Felix war ein verdammt guter Fußballspieler und Basketballcrack noch dazu. Er wusste genau, wie man einen Ball schießen oder werfen musste, um einen Volltreffer zu landen. Er besaß ein untrügliches Gespür für Richtungswechsel und Geschwindigkeit, konnte die Bewegungen seiner Gegenspieler perfekt voraussehen und wusste immer genau, wo seine Mitspieler stehen. In der Theorie. In der Praxis bekam er von Sportschuhen sofort schmerzhafte Blasen an den Zehen, hasste es wie die Pest zu schwitzen und verfiel in Panik, wenn ein Ball direkt auf ihn zuflog. Seine Lieblingsposition war die des Zeugwarts. Niemand konnte ihm da das Wasser reichen. Er reichte es.

Schatten

Ich blickte dem Rettungshubschauber hinterher, bis ich ihn nicht mehr am Horizont erkennen konnte. Es war ein strahlender Sonnentag im Juli. Vielleicht der schönste Tag des ganzen Jahres mit blauem Himmel und einer angenehmen Temperatur. Ein wirklich blöder Tag, um ohne nach links und rechts zu schauen mit dem Fahrrad über die Straße zu fahren und sich von einem Auto überrollen zu lassen. Ganz sicher war ich mir nicht, was gerade mit mir passierte, aber aus irgendeinem Grund stand ich hier in der warmen Sonne, während mein Körper in dem Hubschrauber war. Mir fiel auf, dass ich keinen Schatten warf.

Lange Schlange

Eine lange Schlange war im Supermarkt an einem Samstagvormittag nicht wirklich außergewöhnlich, aber dieses bräunliche, leicht gelblich schimmernde Reptil hier in der Obstabteilung zu sehen war doch eine Überraschung. Melissa kannte sich nicht mit Schlangen aus, daher konnte sie die Art nicht bestimmen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass das Reptil irgendjemandes Haustier ist und ausgebüxt war. Jetzt lag die Schlange mit einem bei näherer Betrachtung recht gelangweilten Blick auf den Boskoop Äpfeln und rührte sich kaum. Melissa spürte keine Angst, im Gegensatz zu dem Mann, der leichenblass neben ihr stand. Er könnte einen Apfel jetzt verdammt gut gebrauchen.

Nur eine Axt

Eine Axt zu besitzen ist kein Verbrechen. Es handelt sich bei einer Axt um ein ganz normales Werkzeug, das Menschen schon seit Jahrtausenden benutzen, beispielsweise, um Feuerholz zu hacken. Nun besitzt Tessa zwar keinen Kamin, aber deswegen kann sie trotzdem Holz hacken. Es ist also wirklich nichts Verdächtiges daran, eine Axt im Werkzeugschuppen zu haben. Aus diesem Grund sieht Tessa es ganz locker, dass ihr neuer Nachbar gefragt hat, ob er sich ihre Axt ausborgen kann. Er weiß sicher nichts, das er nicht wissen soll. Andererseits hat er ebenfalls keinen Kamin. Tessa kann nichts riskieren. Sie wird ihre Axt brauchen.

Der letzte Sommer

Das Land begann sich zu verändern. Viele ihrer Nachbarn und Verwandten wollten dies nicht wahrhaben, aber die drei Freundinnen waren lange genug auf der Welt, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Sie hatten schon einen großen Krieg erlebt. Damals, als sie viel jünger waren. „Lasst uns noch einmal ans Meer fahren“ schlug Magda den beiden anderen Frauen, die sie gefühlt schon ein ganzes Leben kannte, vor. Sie war die Älteste, aber nie zuvor hatte sie eine Unternehmung angestoßen. Bettina und Klara sahen sich einen Augenblick lang an. „Das ist eine sehr gute Idee“ erwiderte Bettina schließlich. Noch einmal verreisen.

Kampf um Gold

Nach 200 Jahren Krieg herrschte eine gähnende Leere in der Staatskasse. Frotho hatte den Thron seines Vaters übernommen und damit auch eine tiefe Schuld gegenüber dem Volk geerbt, das so viele Opfer hatte bringen müssen. Nun war es an ihm, zu leiden. Schon viele Männer hatten sich dem Drachen gestellt, um an den riesigen Schatz zu kommen. Sie alle scheiterten auf die tragischste Weise. Es wird seiner ganzen Kraft und allen Mutes erfordern, sich dieser Herausforderung zu stellen. Eine Wahl blieb ihm nicht. So schrecklich, bösartig und gemein diese Frau auch war, er musste sie heiraten. Der Drache besaß Unmengen Gold.

Der Himmel weint

Wenn es regnet, bewegt sich die Welt plötzlich schneller. Die Menschen gehen nicht, sie rennen. Zu ihren Autos, ins Haus oder einfach unter das nächste Dach. Hannah widersteht dem Drang, ins Trockene zu flüchten. Während alles um sie herum in Bewegung ist, setzt sie kaum einen Fuß vor den anderen. Die Regentropfen prasseln auf ihren Schulranzen und bedecken jeden Zentimeter ihrer Jacke. Sie denkt an das Foto. Ihre Mutter hat es ausgesucht, es soll vergrößert werden, um aufgestellt zu werden. Neben den Sarg. Mehr war von ihrer Oma nicht geblieben. Ein Foto. Seit ihre Oma gestorben ist, regnet es unaufhörlich.

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